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Auszug aus dem Buch von Ursula Lambrou

„Familienkrankheit Alkoholismus“
Im Sog der Abhängigkeit

 

Alkoholismus ist eine Familienkrankheit, die nicht nur dem eigentlichen Betroffenen zu schaffen macht, sondern nicht minder seinen Familienangehörigen. Kinder von Alkoholikern leiden noch als Erwachsene an den Verletzungen, die sie in ihrer Kindheit durch den Alkoholismus eines Elternteils erfahren haben, und quälen sich oft ein Leben lang allein mit versteckten Angst-, Schuld- und Rachegefühlen. Ein normales Familienleben ist ihnen unbekannt, sodass sie oft noch als Erwachsene große Schwierigkeiten haben, eine dauerhafte Partnerschaft zu realisieren.

 

Bis vor einigen Jahren habe ich nie mit einem anderen Menschen darüber geredet, was es für mich bedeutet, bei einem alkoholkranken Vater und einer medikamentenabhängigen Mutter aufgewachsen zu sein. Ich fühlte mich ‹anders› als andere und meinte, so wie ich denkt und fühlt keiner. Dieses Gefühl, anders zu sein, konnte ich mir nicht erklären, und ich bemühte mich, es zu verheimlichen und zu vergessen.

 

Zwei Erlebnisse veränderten meine Einstellung. Ich besuchte eine junge Frau, die noch bei ihrer alkoholsüchtigen Mutter lebte. Früher hatte ich ihr ab und zu geholfen, vor Gästen den betrunkenen Zustand der Mutter zu vertuschen.
In unserem Gespräch fragte ich sie, was sie heute machen würde, wenn ihre Mutter betrunken sei. Ihre Antwort traf mich unvorbereitet. «Ich sehe dann nicht, was ich sehe», sagte sie und fügte hinzu:  «Scheuklappen aufsetzen, weißt du.» «Ich sehe nicht, was ich sehe», das klang damals verrückt für mich, und doch wusste ich, dies ist auch eine wichtige Aussage über mich.

 

Zum ersten Mal sprach jemand etwas aus, das ich als zutreffende Charakterisierung meiner eigenen Schwierigkeiten empfand. Ich verabredete mich mit einer anderen Frau, deren Vater und Mutter alkoholabhängig sind. Sie musste den Termin aufschieben. «Heute kann ich nicht», sagte sie, «meine Mutter ist gestern Abend auf die Intensivstation gebracht worden, und ich habe heute allen möglichen Leuten die intimsten Dinge von mir erzählt, ohne ihnen etwas von mir zu sagen. Lass uns morgen miteinander reden.» Wieder hörte ich einen verrückten Satz, und auch hier erkannte ich mich wieder. Diese zwei Frauen hatten mir durch ihre Bemerkungen gezeigt, dass es doch Menschen gibt, die verstehen, wie ich mich fühle, Menschen, für die mein Verhalten, Denken und Fühlen ‹normal› sein müssen. Diese beiden Frauen und ich teilen eine wichtige und grundlegende Erfahrung, wir sind bei alkoholabhängigen Vätern und Müttern aufgewachsen.

 

Diese privaten Gespräche standen am Anfang meiner Untersuchung über erwachsen gewordene Kinder von Alkoholikern. Es ging mir um das sehr persönliche Bedürfnis, durch die Erzählungen anderer zu begreifen, wer ich bin, meine Verhaltens- und Denkmuster im Leben anderer Menschen, die ähnlich wie ich aufgewachsen sind, wiederzufinden. Was ich von meinen Gesprächspartnern und -partnerinnen erfuhr, fand ich für mich wie auch für andere erwachsen gewordene Kinder von Alkoholikern wichtig. So entstand die Idee, die Ergebnisse meiner Nachforschungen in einem Buch darzustellen.

 

Ich beschäftigte mich also mit den Auswirkungen der Familienkrankheit Alkoholismus, an denen noch die erwachsen gewordenen Kinder leiden. Dieses Thema stellte für mich völliges Neuland dar. Ich entwarf einen Untersuchungsplan, der in ähnlichen Situationen von Ethnographen und Sozialwissenschaftlern in den USA häufig angewandt wird: eine ethnographische Feldstudie. Darüber hinaus orientierte ich mich an der sogenannten «Grounded Theory». Ich habe die Interviews in der Absicht geführt, möglichst deutlich von der Person zu erfahren, wie sie mit dem Alkoholismus zu Hause gelebt hat, wie und ob sie damit klargekommen ist, wie sie heute lebt. Ich hatte selten eine spezielle Frage, ich hörte mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu und hakte nach, wenn ich mich selbst betroffen fühlte oder wenn ich ahnte, dass Nachfragen zu neuen Erkenntnissen führen würden.